Keine Zeit haben

Keine Zeit haben

Beitragvon 55555 am Donnerstag 18. Juni 2009, 20:33

Menschen geben oft an keine Zeit zu haben. Dabei ist allgemein bekannt, daß alle Menschen gleich viel Zeit haben, 24 Stunden pro Tag.

Gemeint ist wohl oft damit: "Ich finde andere Vorhaben wichtiger als XY. Ich räume diesen höhere Priorität ein."

Ein Phänomen ist für mich aber, daß zumindest scheinbar viele Menschen mehr vorhaben, als sie tun können und dann Dinge, die eigentlich geplant wurden (ich nehme an, daß manche solcher Dinge tatsächlich ernsthaft beabsichtigt wurden). Ist das vergleichbar mit dem Phänomen viele Freunde zu haben und sich jeweils die auszusuchen, die aus egozentrischen Motiven gerade am vorteilhaftesten sind?

Was ist das für ein Drang so zu handeln? Ist dieses Verhalten ein Erbe aus Zeiten, in denen man größere Lebensrisiken einging, wenn man sich nicht viel zusammenraffte, was man bekommen konnte? Fühlen sich viele Menschen in modernen Gesellschaften nur wohl, wenn sie sich derart gemästet haben, daß sie überfordert sind? Bezogen auf alle möglichen Lebensbereiche?

Und: Sind Autisten da anders? Weil sie weniger solchen archaischen Instinkt in sich haben, wenn man von meiner oben beschriebenen These ausgeht?
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Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Andreas K. am Freitag 19. Juni 2009, 01:14

Es gibt nicht nur freiwillige Zeiteinteilungen. Manches liegt an der vertraglich vorgeschriebenen Erfüllung von Pflichten--- vor allem die Erwerbsarbeit. Sonst ist der Job weg und mit dem Geld zum Lebensunterhalt wird es schwierig.
Wenn ich 8 Stunden schlafe und 9 Stunden arbeite, muß ich zumindest als Alleinstehender auch noch ca. 1 h mich um mein Essen kümmern (Bei mir meist Billigpizzeria oder Ähnliches) , ab und an einkaufen und sehen, daß die Wohnung nicht völlig verdreckt.
Also bleiben abends ca. 3 bis 4 Stunden zur freien Verfügung. Da muß ich Prioritäten setzten, vor allem, wenn ich noch dazu politisch aktiv bin.
Daß viele NA/NT einen großen Bekanntenkreis für vorteilhaft halten und gerne innerhalb variabler Netzwerke mit ihren Bedürfnissen jonglieren, ist sicher ein Unterschied zu autistischen Menschen. Ich mag klare Terminvereinbarungen über Wochen im voraus und eine sachorientierte Begrenzung von Kontakten.
Vor allem ist mir aber Zeit wichtig, wo ich einfach nur für mich sein kann, auch ohne Internet.
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Hans am Freitag 19. Juni 2009, 06:12

Das Phänomen rennt mir auch nach.
Es ist oft auch daß man sich die Einteilung nach Prioritäten schon gut gesetzt hat,
aber dann kommt eben noch das Zusammenspiel mit anderen Menschen,
Wartezeiten, Lieferzeiten etc. so daß etwas eben nicht in der ausgemachten Zeit fertig wird.
Davon hängt aber der nächste Schritt ab, so verzögert sich alles um diese Wartezeit.
Ich bin schon bei meiner Geburt vierzehn Tage zu spät gekommen,
das hole ich nie wieder ein.
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon 55555 am Samstag 20. Juni 2009, 08:38

Ich denke es gehört zur Entdeckung der eigenen Lebensverantwortung zu erkennen, daß auch berufliche Verpflichtungen freiwillig sind und bewußt gesetzte Prioritäten sind. Sie sind nichts, was von außen erzwungen wird. Der Wille Geld zu erhalten ist entscheidend. Geld ist jedoch nicht erforderlich um zu leben.
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Re: Keine Zeit haben

Beitragvon azrael am Samstag 20. Juni 2009, 17:12

ich finde es schwierig zu behaupten, dass geld nicht erforderlich sei um zu (über)leben.
ähnlich verhält es sich auch bei "ich habe keine zeit, weil mir XY wichtiger ist".

vor jahren hatte ich lange überlegt, ob ich nicht besser auf der straße lebe, anstatt mit meiner familie in der familiären wohnung.
das erste problem: woher bekäme ich nahrung?
hatte mir dann überlegt, von gräsern zu leben. grünflächen bestehen zum glück noch in großstädten.
das nächste problem: wie reinigt man das zuverlässig?
darüber hinaus ist der mensch ein schlechter grünzeugverwerter.
was ist mit kleidung?
wie kocht man wasser ohne hilfsmittel?
wo kann man sachen lagern, ohne dass sie gestohlen werden?
wenn man vollständig unabhängig leben möchte.

im allgemeinen hat sich der mensch ein künstliches biotop geschaffen, aus dem er selbst nur noch schwer ausbrechen kann.
andere situation mit prioritäten:
eigene wohnung. umsonst gibt es diese nicht.
dafür muss der mensch arbeiten.
ein anderer mensch möchte mit dem arbeitenden menschen um x-uhr etwas unternehmen. dieser sagt "ich habe keine zeit" (weil dieser um diese uhrzeit arbeiten muss, unendlich urlaub gibt es nicht, immer zu spät kommen oder früher gehen ist auch nicht möglich). was denkt sich die erste person? "wenn ich dir wichtiger wäre, würdest du nicht arbeiten." ? "wenn dir deine freizeit wichtiger wäre, würdest du weniger arbeiten." ? eine wohnung ist wie ein safe. wer kein geld besitzt, besitzt auch keine dinge, die er in einen safe tun könnte. theoretisch. allerdings besitzen die menschen heute allgemein sehr viele dinge, die sie anderen schenken.

in einem test ging es um das herausfinden, ob man selbst selbstlos ist oder sein kann. aus dem eigenen besitz sollte etwas herausgesucht werden, dass einem sehr wichtig ist. eine leichte aufgabe. der haken: dieses sollte an eine andere person verschenkt werden. frage: ist das so einfach möglich? wie fühlt man sich dabei/danach? (selbst wenn dieses rein gedanklich durchgedacht wird?).

was ist mit einem menschen, der dinge besitzt, die er nicht mit sich herumtragen kann, für die er einen safe in form einer wohnung benötigt? wenn dies ein mensch ist, der sich von allen dingen nicht trennen kann, da sie eventuell nützlich sein könnten? setzt er sich dann prioritäten, die andere menschen anders gewichten würden, oder erfüllt dieser mensch lediglich bedingungen um die ausgangssituation (dinge in einen safe tun) aufrechtzuerhalten?

wenn sich das eine durch das andere ergibt, warum besitzen dann einige menschen den eindruck, dass andere für sie oder für tätigkeiten keine zeit besitzen bzw. sie selbst der meinung sind, dass die so ist? ein kind, dass noch nicht in den kindergarten geht, besitzt ebenso 24 stunden pro tag zu seiner verfügung wie ein berufstätiger mensch. beide situationen können jedoch nicht miteinander verglichen werden. während das kind alles erhält, was es benötigt ohne etwas dafür tun zu müssen, muss ein anderer mensch arbeiten um sich selbst die dinge zu erhalten, die er benötigt. wenn generell und überall unentgeltliche tauschgeschäfte möglich wären - wäre dieses eine alternative zur kapitalgesellschaft. aber: es bestehen zu viele menschen. geschult wird die fokussierung auf einen einzelnen kleinen ausgeschnittenen bereich. und schon sind diese menschen "überqualifiziert", wenn sie in bereichen arbeiten möchten, die nicht ihrem "profil" entsprechen. bei einer unentgeltlichen tauschgesellschaft müssten die menschen flexibel sein können. ich glaube, dadurch würde der konkurrenzkampf ausarten.

wäre die gesamte landfläche dieses planeten in flächen eingeteilt für menschengruppen einer bestimmten größe - alles zu gleichen teilen und gleichen klimatischen und sonstigen bedingungen - wie würden die angrenzenden gemeinden mit misswirtschaft einer anderen gemeinde umgehen, wenn diese mittel erhalten möchten? würden die angrenzenden gemeinden fair bleiben (vorausgesetzt, dass sie untereinander fair wirtschaften)?

der hauptsächliche konflikt bei "keine zeit haben" liegt wahrscheinlich in unterschiedlichen wahrnehmungen und gewichtungen begründet.
person X besitzt die möglichkeit 24 stunden am tag ausschließlich für sich selbst zu haben, person Y besitzt unter anstrengung die möglichkeit 3 - 4 stunden (wie Andreas K. schilderte) für sich zu haben. während person X vieles erledigen kann, kann dies person Y nur in den 3 - 4 stunden erledigen. dafür bestehen nunmehr extra zeitmanagementkurse. wie man noch mehr aus noch weniger persönlicher zeit herausholen kann. dann die preisfrage: wann bricht person Y zusammen, wenn sie mit ihren 3 - 4 stunden täglich nach noch zur verfügung stehender möglichkeit allen anderen gerecht werden will? neben person/tätigkeit X auch noch A, B, C-.....Z?

was ist, wenn person Y autistisch ist und eigentlich die 3 - 4 stunden als zusätzliches schlafpensum benötigen würde?

wenn es zur eigenen lebensverantwortung gehören würde zu erkennen, dass berufliche verpflichtungen freiwillig sind, wie kann ein solcher mensch seine existenz/seinen safe sichern, wenn er seine beruflichen verpflichtungen aufgibt? wie kann er dies aus eigener kraft leisten, ohne von anderen abhängig zu sein?
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon 55555 am Montag 22. Juni 2009, 22:49

Es gibt durchaus alternative Lebensformen in Deutschland, bei denen man auch ohne diesen Erwerbsdruck auskommen kann. Von denen weiß allerdings seltsamerweise fast niemand.
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Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Andreas K. am Mittwoch 24. Juni 2009, 01:07

Hallo ,

zu den Lebensformen ohne Erwerbsdruck wüßte ich gerne mehr. Ich habe den Eindruck, daß auch Freiräume wie Landkommunen eher Marktlücken sind, nicht mehr und nicht weniger. Absolute Armut (ja, es gibt Menschen (Autisten?) , die leben jahrelang in Stadtwäldern!) hat für mich nichts Anziehendes.

Die Ausnutzung von staatlichen Transferleistungen lebt davon, daß andere Steuern zahlen und ist ja auch Arbeit, vom Schlangestehen bis zum vielen Autisten verhaßten Herumflunkern beim Sachbearbeiter(in).

Die Prioritätensetzung für die Erwerbsarbeit gibt mir selbst übrigens auch Stetigkeit und Halt, die Arbeit deckt sich zum Teil mit meinen Hobbies. Bezugspersonen sollten durchaus auch lernen, sich mal "hinten anstellen" zu müssen. Nur hab ich eben das Problem, daß abgeschlossene Arbeitsverträge einzuhalten sind, ob es mir im konkreten Fall gefällt oder nicht.

Schwieriger als die Arbeit an sich finde ich die Ausbeutung. In unserer Gesellschaft wird nur anerkannt, was einem selbst oder anderen wirtschaftlichen Gewinn bringt. Nach gesellschaftlichem Nutzen wird viel zu wenig gefragt.
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Bluna am Mittwoch 24. Juni 2009, 11:10

Ich sehe es ganz genauso,wie Andreas K.es beschreibt.
Für mich ist meine Erwerbstätigkeit ebenfalls auch zum einen ein Beitrag zur Gesellschaft,
zum anderen eine Ergänzug meiner persönlichen Neigungen.


.
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon 55555 am Sonntag 28. Juni 2009, 12:11

Eine entscheidende Frage wäre wohl, was man meint zum Leben zu brauchen, also wo man aufgrund eigener Entscheidungen einen "Druck" ausmacht. Aber eigentlich geht das auch schon über die Feststellung hinaus, daß jeder frei entscheiden kann, was er mit seiner Zeit anfängt.

Ich behaupte erstmal, daß hierzulande man vor allem Essen und eine irgendwie beheizbare Wohnstatt als Lebensgrundlagen ansehen kann.
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Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Hans am Montag 29. Juni 2009, 04:02

Das mit dem Essen und Heizen ist fundamental, mich auch noch um Andere kümmern eher ein Zusatz.
Wenn mich das Einrichten meiner Lebensumstände auch noch aufhält, kommen soziale Kontakte
für diesen Zeitraum kürzer.
Ich hatte aber auch schon Lebensumstände, in denen mich das Pflegen sozialer Kontakte
davon abhielt, mich um mich kümmern zu können.
Ich hatte es auch schon, daß mich ein Mädchen auf eine mögliche gemeinsame Zukunft ansprach,
während sie mir beim Holz-Arbeiten zu sah.
Den folgenden Winter hatte ich zwar kein Mädchen, aber eine warme Bude.
Hätte ich ihrem Verlangen nachgegeben, hätte ich zwar ein Mädchen gehabt,
die mir dann aber fortwährend mit schlechter Laune begegnet, weil die Bude kalt ist.

Den Minimalismus, nur so viel zu arbeiten, daß man leben kann, leben hier ein paar Menschen wirklich.
Sie haben aber noch viel weniger Zeit, sich für was anderes, als das eigene Überleben zu kümmern.
Sie leben komplett aus ihrem Garten, haben aber sonst nichts, keine Elektrizität, kein Radio
und keine Reisen, sitzen immer nur auf ihrer grünen "Scholle"
und reiben sich die von der harten Gartenarbeit schmerzenden Glieder.
Die Zähne haben sie auch sehr lückenhaft und keine Kohle für den Zahnarzt.
Sie erzählen dabei noch immer die gleichen Geschichten wie vor zwölf Jahren,
weil sie ja kaum rauskommen und nichts "Neues" erleben konnten.
Dabei haben sie ja kaum Aufwand fürs Heizen.
Sie sprechen davon die Konsumgesellschaft zu verweigern,
weil sie es aber übertreiben verweigern sie sich einen Teil des Lebens und der Lebensfreude.
Wenn ich meinen Aufwand Auto mit mobiler Elektronikwerkstatt nicht betreiben würde,
müßte ich mehrere Stunden am Tag im Garten für Essen arbeiten,
so ist es nur notwendig weniger als eine Stunde am Tag mit dem Lötkolben fürs Essen zu arbeiten.
Für das Diesel um meine Werkstatt zu bewegen arbeite ich mehr, aber auch gerne.
Bedeutet es doch für mich wichtige Beweglichkeit.

Brumm ergo sum.
 

Re: Keine Zeit haben

Beitragvon 55555 am Mittwoch 1. Juli 2009, 08:13

Im Thema ging es mir zuerst darum, daß ich gerne erleben würde, daß Menschen Verantwortung für ihre Prioritätensetzung übernehmen, zeigen, daß sie sich darüber klar sind, daß es auch anders gehen würde. Nach meinem Eindruck sind sich viele Leute hierzulande über Alternativen zu ihrem Lebensweg nicht im Klaren und können so nicht sehr frei abwägen, welche subjektiven Vor- und Nachteile sie wie gewichten wollen.

Du schilderst Aussteiger in Portugal als tendentiell unzufriedene Menschen, die sich mit Dogmen im Kopf auf Linie halten. Diese Menschen haben sich mal entschieden. Es mag sein, daß sie sich zu sehr in etwas verrannt haben, aber es ist ihr Entscheidung. Wie viele Leute sind aber mit ihrem Leben höchst unzufrieden, die nicht einmal so eine bewußte Entscheidung getroffen haben. Warum sind denn Depressionen so verbreitet? War das schon immer so? Die hoch arbeitsteilige Gesellschaft in der wir leben bietet wenig Halt, auch durch ihre Größe, vieles ist nicht so ganz nachvollziehbar.

Auch als Aussteiger kann man sich verrennen, ganz klar, aber du weißt nicht einmal, ob sie letztlich nicht doch zufrieden sind mit einem abgeschiedenen Leben. Als deutsche Staatsangehörige könnten sie zumindest jederzeit zurück nach Deutschland und sich arbeitslos melden.
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Re: Keine Zeit haben

Beitragvon Bluna am Samstag 4. Juli 2009, 20:39

An55555:
Also vielleicht lese ich da aus deinem Beitrag etwas falsches heraus.
Es scheint mir,als würdest du einem "Aussteiger"eine"bewusstere " Lebensentscheidung zusprechen,als generell Menschen,die einen sagen wir mal konservativeren Lebensweg gewählt haben.
Sagt die Art des Lebensweges,den man wählt ,etwas über die Intensität der Bewusstheit bei der Entscheidungsfindung aus?
Das würde mich genauer interessieren.
 

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