7 allgemeine Distanzierungen

Der ESH begegnen im Alltag immer wieder Ansichten, die wir problematisch finden. Aus diesem Grund möchten wir uns geballt von verschiedenen Sachverhalten distanzieren und teils Lösungen aufzeigen.

  1. Zur Ansicht Autismus stelle eine Krankheit, eine Störung, Entwicklungsverzögerung etc. dar
    Autismus ist keine Krankheit. Ebenso, wie vor wenigen Jahrzehnten Homosexualität, wird Autismus heutzutage als Krankheit betrachtet. Hierbei handelt es sich nicht um eine objektive Einordnung, sondern um den Ausdruck letztlich willkürlicher kultureller Normen einer Gesellschaft, die es nicht fertigbringt, sich selbst positiv zu definieren und zu diesem Zweck Abgrenzungen benötigt zu Eigenschaften, die dann als schlecht eingeordnet werden. Etwas als Krankheit einzuordnen macht unmißverständlich klar, daß dieses Etwas zur Beseitigung vorgesehen wird. Wenn ich einen Schnupfen habe und diesen als Krankheit bezeichne, dann tue ich dies, weil ich ihn unangenehm finde, mich von ihm gestört fühle. Autismus ist jedoch eine angeborene Persönlichkeitsveranlagung, die allenfalls unter den aktuell gegebenen Lebensumständen ein erhöhtes Risiko zu verschiedenen Problematiken mit sich bringt. Das ist jedoch nicht auf Autismus zurückzuführen, sondern auf die Folgen der Minderheitenstellung der Autisten in dieser Gesellschaft. Erst seit Kurzem wird dieser Diskriminierung mit allgemeinen Entwicklungsansätzen wie dem Universellen Design von Industriewaren und Dienstleistungen Rechnung getragen. In einer vergleichbaren Minderheitenposition würden durchschnittliche Nichtautisten innerhalb einer - durchaus auch realistisch lebensfähigen - autistischen Mehrheitsgesellschaft vermutlich unter ähnlichen Problemen leiden. Die Tragweite dieser Feststellung wird nach derzeitigem Stand leider nur einer Handvoll Nichtautisten klar sein, da fast nur sehr oberflächliches Pseudowissen zu Autismus vorherrscht und die Wissenschaft sich in diesem Bereich ungefähr auf einem Stand befindet, der der historischen Ansicht gleicht, weibliche Hysterie könne durch Entfernung der Gebärmutter geheilt werden.
    Zu beobachteten Entwicklungsabläufen ist anzumerken, daß Autisten sich zumindest unter den gegebenen Umständen oft anders entwickeln. In einigen Bereichen sind sie gleichaltrigen Nichtautisten mitunter "weit voraus", in anderen diese ihnen. Da Autisten jedoch von ihrem Umfeld als krank betrachtet werden, werden oft einseitige Beschreibungen vorgenommen, die dann pathologisierend ausfallen und in diesem Sinne ein ausschließlich defizitäres Bild zeichnen. Dieses wird dann oft von anderen Personen wieder aus den Unterlagen abgeschrieben, weil ja heute praktisch jeder im Gesundheitswesen überlastet ist und unter dem Druck steht, möglichst leistungsfähig zu erscheinen. Bei umgekehrten Vorzeichen könnte man auch durchschnittliche Nichtautisten als entwicklungsverzögert betrachten. Eine besondere Tragik besteht darin, daß immer wieder Autisten aufgrund dieser Einordnung bei letztlich nutzlosen Umerziehungsversuchen zu von Nichtautisten als Norm betrachteten Gewohnheiten psychisch grundlegend zerrüttet werden, statt ihnen in ihren vorhandenen Stärken unbeschwerte Bildung zu ermöglichen. Unter anderem hierbei ergeben sich deutliche Parallelen zu Diskriminierungen von Gehörlosen.
    Kurz: Autisten werden durch änderbare Lebensumstände krank gemacht, sind jedoch nicht wegen ihres Autismus krank. Autisten werden durch änderbare Lebensumstände gestört, sind jedoch nicht wegen ihres Autismus gestört. Autismus ist eine runde Sache, die einem erfüllten Leben nicht entgegensteht.
  2. Jemand "habe" Autismus, "leide" unter Autismus, sei von Autismus "betroffen", sei "autistisch behindert", ein "Mensch mit Autismus", ein "Mensch mit Behinderung", etc.
    Viele Autisten haben tiefes und umfassendes Leid dadurch erlebt, daß Nichtautisten sie mittels ihrer nichtautistischen Empathie (die eine Projektion ihrer Selbstwahrnehmung auf Mitmenschen darstellt) als Nichtautisten betrachteten, die von Autismus gewissermaßen verschüttet sind und Autisten von diesem vermeintlichen Zustand zu befreien versuchten. Deswegen reagieren viele Autisten sehr empfindlich, wenn Autismus von ihnen als Mensch in irgendeiner Weise als getrennt dargestellt wird. Die Persönlichkeit eines Autisten ist nicht trennbar von dem Persönlichkeitselement Autismus.
    Deswegen "hat" niemand Autismus, sondern ist Autist. Deswegen leidet niemand unter Autismus, sondern unter einer nichtautistisch geprägten, diskriminierend gestalteten Kulturlandschaft. Deswegen ist niemand von Autismus "betroffen", denn Betroffensein weist auf etwas "Schlimmes" hin, was Autismus als etwas Schönes nicht ist. Deswegen ist niemand "autistisch behindert", sondern wird als Autist von ebendiesen Umständen behindert. Deswegen gibt es keine "Menschen mit Autismus", wie es auch keine "Menschen mit Nichtautismus" gibt. Zudem sei darauf hingewiesen, daß nicht wenige Autisten sich selbst generell nicht als "Mensch" bezeichnet sehen wollen, da sie den Begriff "Mensch" mit von ihnen erlebter Barbarei von Nichtautisten in Verbindung bringen und etliche Autisten das Gefühl haben, eine eigene Art darzustellen, die mit den (nichtautistischen) Menschen nicht mehr zu tun hat als andere Arten.
    Zum Begriff "Menschen mit Behinderung" ist mit großem Bedauern anzumerken, daß in ihm eine Verschlimmbesserung des klassischen Begriffs "Behinderter" als vermeintlich diskriminierungsfreiem Begriff auch mit Hilfe mancher Behindertenverbände Einzug in manche Bereiche des öffentlichen Sprachgebrauchs gehalten hat. Dessen verheerende Wirkung ist kaum abzuschätzen. Dieser Begriff sollte ganz allgemein unbedingt ganz schnell wieder verschwinden, denn er schreibt in geradezu antiaufklärerischer Weise die Behinderung quasi als Persönlichkeitseigenschaft dem durch äußere Umstände behinderten Menschen als Person zu und ignoriert praktisch komplett die Erkenntnisse der Disability Studies. Dies war im alten Begriff des "Behinderten" so noch nicht enthalten. Noch unverständlicher wird dies, wenn man sich vergegenwärtigt, daß für Freunde des Begriffs "Mensch" der Begriff "behinderter Mensch" ebenfalls große Verbreitung fand, welcher die geschilderte Problematik nicht aufweist.
    Hierbei sei am Rande noch erwähnt, daß die ESH es für sinnvoll hält, Schwangerschaft als Behinderung umzubewerten, um den Begriff der Behinderung mehr aus seiner überkommenen gesellschaftlichen Nische und der verbreiteten Assoziation mit einer Einschränkung des Lebens herauszuholen. Näheres siehe hier: http://autisten.enthinderung.de/schwangerschaft_behinderung

  3. Elternverbände verträten die Interessen von Autisten
    Leider werden bis heute Elternverbände noch oft als Anlaufstellen der Politik oder aus sonstigen Anlässen herangezogen. Diese Elternverbände beteiligen Autisten meist nicht einmal symbolisch und grenzen Autisten teilweise direkt und auch indirekt durch mangelnde interne Barrierefreiheit aus. Viele beteiligte Eltern vertreten kulturelle Wertvorstellungen, die diskriminierende Natur besitzen. Teilweise spielen auch Therapeuten und ähnliches Personal bei internen Entscheidungen eine größere Rolle, wobei deren finanzielle Interessen auch eine Triebkraft sein dürften. Daher sei allgemein angeraten, sich zu vergewissern, daß Entscheidungsträger, wenn es um Interessen von Autisten geht, auch eine Organisation kontaktieren, die maßgeblich von Autisten betrieben wird. Desweiteren sei vor zweifelhaften Organisationen wie "Autism Speaks" besonders ausdrücklich gewarnt.
    Näheres dazu hier: http://www.autisticadvocacy.org/modules/smartsection/item.php?itemid=60
    Allgemein wird von uns darüber hinaus auch innerhalb der Behindertenszene eine weitgehende Ausgrenzung von Autisten beobachtet. Barrierearme Kommunikation wird in einem sogar noch höheren Maße verweigert, als es im Kontakt mit allgemeinen öffentlichen Stellen der Fall ist. Aus diesem Grund werden die Interessen von Autisten in Deutschland in der Regel bis heute auch nicht von ebenfalls durch Nichtautisten dominierten allgemeinen Behindertenverbänden vertreten. Autisten und Nichtautisten verstehen sich oft falsch aufgrund ihrer unterschiedlichen Körperspache, wie Hund und Katze, die z.B. Bewegungen mit dem Schwanz gegensätzlich deuten.
  4. Freudige Hinweise auf den UN-"Weltautismustag"
    Der Feiertag der Autisten, die sich etwas aus Feiertagen machen, ist der Autistic Pride Day, welcher jedes Jahr am 18. Juni begangen wird. Wer den UN-Weltantiautismustag als Feiertag der Autisten feiert, der wird vermutlich auch kein Problem damit haben, den Jahrestag des Mailänder Kongresses als "Weltgehörlosentag" zu begehen.
    Autismusfeindliche Kreise haben es vor einigen Jahren geschafft, die UN-Generalversammlung dafür zu benutzen, um eine dem Geist der damals erst startenden UN-Behindertenrechtskonvention widersprechende Gegenveranstaltung zum Autistic Pride Day einzurichten, die vor allem Pathologisierung von Autismus zum Ziel hat, den Welt(anti)autismustag, welcher jährlich am 2. April begangen wird und somit zu einer symbolischen Manifestation der Fremdbestimmung von Autisten durch Nichtautisten wurde. In der Gründungsresolution des "Offiziellen Feiertags der Autistenumerzieher" wurde völlig unkritisch ein Umerziehungsansatz vorausgesetzt, der in der Praxis meist mit schädlichen, oft folterartigen Therapien und der Verweigerung von Barrierefreiheit einhergeht. Das wäre mit "Nichts über uns ohne uns" kaum je passiert.
    Uns fallen vor allem zwei Erklärungen dazu ein: Entweder wurde der Tag eingerichtet, ohne auch nur oberflächlich die Kultur der Autisten zu kennen oder es wurde bewußt eine Konkurrenzveranstaltung geschaffen, die mit teilweise harmlos und human wirkender Rhetorik letztlich gefährliche Desinformation mit einem Hang zu Eugenik an Autisten bezweckt. Wir vermuten eine Mischung aus beiden Erklärungen und rufen hiermit die UN auf, das Datum ihres Feiertags auf das etablierte Datum zu ändern und dabei auch den Geist dieses Tages zur Kenntnis zu nehmen oder ihn ganz abzuschaffen. Wir distanzieren uns scharf vom bisherigen Vorgehen der UN in dieser Angelegenheit.
  5. Es gäbe "schwer betroffene" und "leicht betroffene" Autisten, viele Autisten seien "geistig behindert"
    Oft wird behauptet, es gäbe Autisten, die an sich "autistischer" (im defizitären Sinne) als andere seien. Tatsächlich ist das Modell eines Autistischen Spektrums recht anerkannt. Hierbei wird davon ausgegangen, daß Autismus eine Persönlichkeitseigenschaft sei, die jeder Mensch aufweise, nur in unterschiedlicher Ausprägung. Ab einem letztlich wieder willkürlich gesetzten Punkt innerhalb dieses Eigenschaftenspektrums begönne jemand Autist zu sein. An sich teilen wir diese Ansicht. Andererseits stellen wir fest, daß heutige Diagnosekriterien meist recht oberflächlich sind und sich zu nennenswerten Teilen an Faktoren orientieren, die sich aus dem Zusammenspiel von autistischer Veranlagung und speziellem Lebensumfeld herleiten. Hierbei werden Aspekte als Symptom von Autismus betrachtet, die sehr klar nicht auf Autismus zurückzuführen sind, sondern auf allgemeine menschliche Reaktionen auf hohe psychische Belastung. Nicht umsonst hatte Bettelheim sich bei Autisten an Insassen deutscher Konzentrationslager erinnert gefühlt und daraus geschlußfolgert, daß autistischen Kindern schreckliches widerfahren müsse. Da er jedoch nicht erkannte, daß Autismus eine Persönlichkeitseigenschaft ist, saß er damals dem Trugschluß auf, es handle sich bei Autisten um durchschnittliche Kinder, die unter in ungünstigem Sinne ungewöhnlichen Eltern, besonders Müttern, litten - dem Bild des Nichtautisten, der von Autismus verschüttet ist. Dieser Irrtum ist lange als solcher bekannt, wobei man jedoch bis heute nun in einen gegenteiligen Irrtum verfiel, der den Einfluß des Umfelds auf die Entwicklung von Autisten sträflich vernachlässigt.
    Autisten nehmen die Welt teilweise sehr grundlegend anders wahr. Das zu fassen ist Nichtautisten im Grunde ebenso unmöglich, wie es Autisten unmöglich ist, durchschnittliche Nichtautisten wirklich zu begreifen. Annäherung besteht letztlich nur in rationalen Erklärungsmustern, die oft nur geringe Teile der Zusammenhänge abzubilden imstande sind. Für Nichtautisten völlig unbedeutende Aspekte im Lebensumfeld können für einen einzelnen Autisten eine immense Rolle spielen. Da Nichtautisten die Bedingungen, unter welchen einzelne Autisten leben, so nicht ansatzweise unter Anwendung autistischer Empathie zu erkennen vermögen und auch zugleich bis heute Autisten selbst nicht zur Beurteilung solcher Umstände herangezogen werden, entsteht für diese Nichtautisten der Eindruck, wesentliche Teile des Verhaltens vieler Autisten wie allgemeinmenschliches Überlastungsverhalten seien grundlos oder eben alleine lediglich in einer personenbedingten "Schwere" des pathologisch und durch oberflächliche Kriterien betrachteten Autismus begründet. Dieser Eindruck ist jedoch völlig falsch und wenn es in der Tat mehr oder weniger autistisch veranlagte Individuen gibt, so ist diese Veranlagung in keiner Weise mit dem gleichzusetzen, was Nichtautisten aus ihrem Blickwinkel erleben. Diesen Blickwinkel auf eine vermeintliche, mehr oder weniger feste Veranlagung zurückzuführen, bedeutet Autisten eine ernsthafte Problemanalyse ihres Umfelds durch andere Autisten zu verweigern, ja nicht einmal den Gedanken zuzulassen, daß dieser Eindruck auf änderbare Lebensumstände zurückzuführen ist und somit einen Menschen lebenslang in seiner behebbaren tiefen Not zu belassen, in welcher auch leicht bei Nichtautisten ein Eindruck permamenter "geistiger Behinderung" entstehen kann.
  6. Es gäbe eine "Autismusepidemie", die Ausrichtung heutiger Autismusforschung, Autismus sei erworben
    Aufgrund steigender Diagnosezahlen wird von manchen Organisationen gerne eine "Autismusepidemie" konstruiert. Dieser Anstieg ist vermutlich damit zu erklären, daß mehr Diagnosen ausgesprochen werden, nachdem erst in den letzten Jahren die Diagnose in breiterer Weise bekanntgemacht wurde und nicht damit, daß sich der Anteil von Autisten an der Bevölkerung tatsächlich vergrößere. Eventuell hat ein Anstieg auch mit der allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen für Autisten zu tun, welche seit hunderttausenden von Jahren unter den Menschen leben (siehe auch hier: http://autismus.ra.unen.de/topic.php?id=2508&goto=34346). Dem Anschein nach hat dies die Funktion, mit solcher Panikmache bei der Politik Finanzmittel für Forschung einzusammeln, die dann in Forschungsprojekte mit dem Ziel gesteckt werden, Autisten z.B. durch gezielte Abtreibungen zu beseitigen. Solche Forschung zu Autismus stellt bis heute die Schwerpunktsetzung der Autismusforschung dar. Forschung ohne diesen Beseitigungsansatz ist kaum zu finden, was zu entsprechenden Ergebnissen und einem Teufelskreis führt.
    Weil kaum nichtpathologisierende Forschung zu Autismus stattfindet, finden Ansätze über die Medizin breite Anwendung, obwohl das eigentliche Problem in gesellschaftlicher Diskriminierung einer Minderheit liegt. Durch diese ungeeigneten Problemlösungsansätze, die meist im Vorfeld auf bestimmte vermeintliche Ursachen fixiert sind und demnach im Grunde nicht wissenschaftlich sauber agieren, entstehen dann zusätzliche Probleme, die weitere Folgekosten für die Gesellschaft bedeuten, etwa durch Heimunterbringungen. Hierauf wiederum wird errechnet, welche Kosten Autismus die Gesellschaft koste, worauf irgendwelche mehr oder weniger horrenden Summen herauskommen. Wiederum wird jedoch aufgrund der Voreingenommenheit und der Einseitigkeit der Forschungsausrichtung nicht festgestellt, daß diese Kosten vermutlich zu nennenswerten Anteilen entstehen, weil Autisten in der Gesellschaft auf erhebliche Barrieren stoßen. Wie diese Barrieren beseitigt werden können, ist jedoch bis heute praktisch gar nicht Gegenstand der Forschung. Weiter wird dann unter dem Eindruck der horrenden Kosten ein stillschweigender Konsens darüber erzielt, daß man diese Bevölkerungsgruppe besser ausrotten sollte - was von Anfang an die Ausrichtung dieser Forschung war. Wir werden also vielleicht schon in wenigen Jahren eugenische vorgeburtliche Massentötungen an einer Minderheit erleben, die nur das Problem hat, durch eine nichtautistisch geprägte Gesellschaft diskriminiert zu werden. Leider hat diese tatsächliche Ursächlichkeit bisher auch noch keinen erkennbaren Eingang in ethische Debatten gefunden, die sich meist ebenfalls auf die oben genannten falschen Annahmen als vermeintliche Fakten stützen. Hier zeigt der Versuch der Etablierung einer eugenikkompatiblem Ethik in schockierender Weise einige seiner eklatanten und kapitalen Schwächen.
    Die Ansicht Autismus sei erworben, findet sich trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Ergebnisse immer wieder. Eine Erklärung dafür könnte sein, daß es so nichtautistischen Eltern leichter fällt ihre Kinder als von Autismus verändert und verschüttet zu betrachten, statt sich damit auseinanderzusetzen, daß ihr Kind einfach anders ist und eigene an sich selbst als positiv erlebte und leichtfertig in dieser Weise objektivierte Veranlagungen schlichtweg nicht objektiv positiv sind. Vielen nichtautistischen Eltern fällt dies, wie auch andere Formen von Selbstkritik, sehr schwer, weswegen die unter 3.) erwähnten Elternverbände auch stark zu solchen Verdrängungsmechanismen neigen, die meist darauf hinauslaufen, daß den Autisten mehr oder weniger verschleiert sämliche "Schuld" für eigene Probleme zugeschrieben werden. Indem sich Eltern darin zu Lasten ihrer Kinder bestärken, fühlen sie sich offenbar persönlich besser. Inwieweit ein durchschnittlicher Nichtautist überhaupt zu weitergehenden Reflexionen in der Lage ist, muß für uns Autisten offen bleiben.
  7. Therapieziel Umerziehung, positive Darstellung früher Diagnosen
    Teils aus den USA kommend, breiteten sich auch hierzulande mit der zunehmenden Thematisierung von Autismus unter diesem an sich noch recht jungen Begriff einige "Therapie"ansätze aus, welche teils mit erstaunlichem Missionseifer vertreten werden. Erstaunlich zumindest, bis man die Preislisten der Protagonisten zu Gesicht bekommt.
    Es geht hier weniger um die Festhaltetherapie, die zwar bis heute Anwendung findet, auch wenn sie teils sogar von Sektenbeauftragten sehr kritisch kommentiert wird, aber dennoch grundsätzlich weiterhin von Krankenkassen bezahlt wird. Ein größeres Problem scheinen eher schwammige Ansätze wie ABA darzustellen, die in der Vergangenheit ebenfalls aus ethischen Gründen schwerer Kritik ausgesetzt waren und sich unter diesem Druck kosmetisch anpassten und offensichtlich mißhandelnde Praktiken größtenteils aufgaben; wobei es auch hier wie bei so vielen Lehren verschiedene Strömungen gibt, auch solche, die die alten Methoden im Verborgenen anwenden und dann versuchen, den Eltern zu vermitteln, daß es nicht mit falscher Sentimentalität betrachtet werden sollte, wenn das autistische Kind wegen der Behandlung stundenlang schreit und weint. Manche Eltern schauen sich das dann lieber gar nicht selbst an und vertrauen darauf, daß die Verheißung von "Verbesserungen" schon richtig sein werde.
    Aber was ist ein Erfolg? Hierbei sollte nicht vergessen werden, daß Autismus heute auch für die Wissenschaft noch eher unerklärlich ist. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit zu bestimmen, wer eigentlich autistisch ist. Hierzu gibt es die Definition als Syndrom. Verschiedene beobachtbare Punkte werden summiert und gewichtet, um eine Diagnose zu stellen. Rein wissenschaftlich stellen diese Punkte für manche Ansätze Autismus dar. Wenn diese Punkte also nicht mehr feststellbar sind, wird dies als Erfolg verbucht. Dieses Verständnis von Autismus ist jedoch in seiner Oberflächlichkeit bei ernsthafterer Betrachtung ziemlich haltlos. Nur weil man Indizien beseitigt ändert sich der eigentliche Sachverhalt nicht unbedingt.
    ABA z.B. ist an sich eine Sammlung von Dressurmethoden. Es geht um die Frage, wie man bestehende eigene Vorstellungen vom Verhalten des autistischen Kindes möglichst weitgehend dem Kind antrainiert.
    Nehmen wir einmal an, eine Person hat einen Splitter im Fuß und hat Schmerzen beim Auftreten. Normalerweise würde man vermutlich bei jedem Arzt eine korrekte Ursachenfeststellung erhalten. Autisten jedoch sind in einigen sehr grundsätzlichen Punkten völlig anders als andere Menschen. Aufgrund dieser Andersartigkeit gibt es immer wieder Mißverständnisse, die vor allem den jeweiligen Autisten schwer belasten. Empathie ist die Übertragung des eigenen Innenlebens auf Mitmenschen. Deswegen haben Autisten eine andere Empathie. Keine schlechtere, einfach eine, die weniger hilfreich ist in einer Welt, welche weitgehend mit Menschen bevölkert ist, die anders sind. Es gibt nicht viele autistische Ärzte und die Meisten davon verstecken ihre dadurch bestehende Qualifikation aus Angst vor Diskriminierungen. Autisten werden also fast ausschliesslich von Ärzten behandelt, die bestenfalls rational versuchen können ansatzweise nachzuvollziehen, wie Autisten sich in Situationen fühlen. Viele Ausdrucksformen und Verhaltensweisen, die an sich völlig verständlich sind, werden so als im Prinzip unverständlich und mehr oder weniger grundlos eingestuft. Autisten sind eben so. Um aufs Beispiel zurückzukommen: Der Arzt verschreibt eine Therapie, die trainieren soll, den Fuß "richtig" aufzusetzen, statt die tatsächliche Ursache auszumachen und zu beseitigen - den Splitter im Fuß. Es mag sein, daß so eine Therapie dann sogar unter größeren Mühen erreicht, daß die betreffende Person selbst zu glauben beginnt, ihr Schmerz sei ein veranlagungsgemäßes Defizit und durch Training und Disziplin im Alltag zu beseitigen. Vielleicht resigniert die Person auch einfach und fügt sich in ihr Schicksal der Therapien, weil sie massiv dazu genötigt wird.
    ABA macht dasselbe. ABA ist offensichtlich keine allgemeine Erziehungsmethode, sondern speziell für "seltsame" Menschen. ABA kann vielleicht Erfolge aufweisen, wobei nach unserer Kenntnis nicht einmal das bisher wissenschaftlich klar erwiesen ist. Aber was sind das für Erfolge? Im Grunde ist es die nackte Ratlosigkeit und der Drang dennoch etwas zu tun, auch wenn man nicht versteht, was man da eigentlich tut.
    Es ist für jeden Menschen wichtig, seine Intuition leben zu können. Sie ist der Zugang zu seinen Stärken. Ja, man kann aus einem Sportwagen irgendwie einen Traktor bauen. Aber warum sollte man soetwas tun? Der so entstehende Traktor wäre wohl nie so gut, wie "so geborene" Traktoren. Daher ist immer die Frage, was eine Therapie erreichen will, ob diese Ziele wirklich sinnvoll sind. Für Wissenschaftler oder hauptberufliche Therapeuten mag es einen Erfolg darstellen, Punkte in einem Kriterienkatalog abzuhaken. Etwa den speziellen für Nichtautisten auf befremdliche Weise als wichtig erscheinenden "Blickkontakt". Aber geht es nicht um einen Menschen? Sollte der nicht besser in seinen Stärken gefördert werden, statt ihn einem willkürlich kulturell durchsetzten und somit sehr fragwürdigem Idealbild des perfekten Menschen irgendwelcher Technokraten anzugleichen und ihn nebenbei zu brechen, dazu zu erziehen nicht mehr auf eigene Empfindungen zu achten, dadurch letztlich eher ein stumpfer Schattenmensch zu werden? Dafür ist es auch nicht entscheidend, ob heute auch "Spaß" als Konzept verfolgt wird. Was nutzt es, wenn jemand zu Blickkontakt nach Art durchschnittlicher Nichtautisten dressiert wird und im Gegenzug schwer traumatisiert wird und somit weitgehend unfähig, sich in seiner Persönlichkeit zu entwickeln?
    Die ganze Tragweite solcher starr angewandter irrlichternder kultureller Normen zeigt sich z.B darin, daß seit Jahren Autisten eine weitgehend barrierefreie Beschulung verwehrt wird mit der Begründung, diese barrierearme Beschulung würde ihre Integration gefährden, obwohl tatsächlich das ganze Gegenteil der Fall ist, weil auf teilweise untragbaren und schwer gesundheitsgefährdenden Rahmenbedingungen behördlicherseits bestanden wird und so Bildungschancen aktiv in massiver Weise vereitelt werden.
    Zu frühen Diagnosen ist anzumerken, daß bis heute eine Diagnose eklatante Diskriminierungen erst begründen kann. Deswegen ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob überhaupt eine Diagnose erfolgen sollte.